Samstag, 15.12.2001 Nr.292 93 Der Tod geht durch den Körper hindurch Notizen zum Leben und Sterben im Altersheim von Martina Hügli (Text) und Katharina Vonow (Bilder)
Sieben Uhr dreissig. Ich klopfe nach einem letzten Gähnen ener-
Erichli schwärmt sie, ihrer grossen Liebe. Der ist mit ihr schon in
Klo?»), kriegt auch sie ein halbes Dipiperon. Die diensthabende
gisch an die Tür und wünsche dann mit klarer Stimme: «Einen
die Häfelischule gegangen. Warum sie ihn nicht geheiratet habe,
Schwester fragt sich ganz aufgeregt, ob sie wohl jetzt wieder ihre
guten Morgen, die Damen, darf ich die Storen hochdrehen?» Mit
frage ich sie, aber sie will nichts sagen. Wenn die Gräfin Schmer-
Depression habe. Vor Depressionen scheinen alle ganz grosse
dieser Frische überspiele ich die Verlegenheit, manchmal auch
zen im Knie hat, ruft sie immer nach Erichli, nie nach ihrem Mann,
Rührung, in eine Intimsphäre so unmittelbar hineinzutreten. Die
mit dem sie fünfzig oder sechzig Jahre lang verheiratet war. Sie
uringesättigte, dumpfe Wärme im Raum, die blinzelnden, zahn-
fragt mich dann, ob ich Erichli gesehen habe, er sei vielleicht hinter
losen Gesichter mit verwirrter weisser Dauerwelle. Ob ich sie
der Tür oder oben. Ich zeige auf ihr Herz und sage, da ist der
Die einzige Lösung aus dieser Verwirrung ist der Tod. Das Per-
waschen dürfe, Fraueli, wie sie geschlafen habe. Sie mümmelt,
Erichli. Sie nickt und sagt langgezogen und seufzend: «Jäh-jäh.»
sonal wird plötzlich ganz ruhig und nüchtern, wenn es seine
schlecht habe sie geschlafen, natürlich, sie schlafe immer schlecht.
Zehn Minuten später fragt sie wieder, ob ich vielleicht Erichli ge-
Machtlosigkeit angesichts des Todes einsehen muss. Kürzlich ist
Es sei so laut gewesen, immer wieder sei jemand ins Zimmer ge-
Anneli fast gestorben. Schon länger hatte sie kaum noch gegessen,
kommen, und überhaupt, das habe schon Jeanne Hersch gesagt:
am Tisch fuchtelte sie mit den Armen, als tanze sie. Sie hat einst
Altern ist schrecklich. Dies ist ein entscheidender Augenblick für
ein Modegeschäft geleitet, ihr Mann war Kunstmaler, er habe sich
den Fortgang des Tages: Ich lächle sie einfach an, ohne auf ihr Ge-
Am Mittwoch ist Singstunde, einige Bewohner freuen sich
um nichts gekümmert. Sie habe alles im Griff gehabt, darum sei sie
jammer einzugehen. Wenn ich jetzt mitleidig den Kopf beuge und
schon Tage vorher darauf. Eine Kassette mit Hintergrundmusik
heute noch so nervös, sagt sie. Jetzt liegt sie im Bett, mit ohne Pro-
schüttle, wird meine Energie bereits angezapft, und den Rest des
wird abgespielt, und die Pensionäre singen dazu oder spielen mit
these eingefallenem Gesicht und blasser Haut, rot gefleckt. Ihr
Tages werde ich mit der Bemühung verbringen, mich wieder zu
Rhythmusinstrumenten. Pipo dirigiert das Ganze mit einem echten
Mund saugt wie ein Trichter nach innen, ein ziehendes Loch ins
schliessen. Ich versuche, meine Aufrechte gut zu spüren und die
Dirigentenstab. Er ist ein Liebhaber der Oper und hat in seinem
Ungewisse, ins Innere des Körpers. Der Tod geht durch den Kör-
Kraft in mir auszuloten, um die abschüssigen Stellen in Momenten
Zimmer Porträts von Cecilia Bartoli und Maria Callas hängen. Die
per hindurch. Hier muss jeder, und sei es auch das erste und ein-
des Schwankens ausbalancieren zu können. Jetzt sage ich laut und
sind seine Familie. Sogar Lili, die sich sonst nicht bewegt, hebt und
zige Mal in seinem Leben, innen durch.
deutlich: «Das tut mir leid, dass die Nacht für Sie schlecht war»,
senkt leicht die Rassel und lächelt. Ich fange an zu weinen, gehe
Auf Annelis Nachttisch liegt ein Kalenderblatt: «Euer Vater
und decke das Bett ab. Rolle das Nachthemd hoch. Und stehe
schnell aufs Klo. Muss der Mensch so alt werden, bis er sich wie-
weiss, wes ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.» Sie liegt im Bett
einer Fülle von Lebensspuren gegenüber, die alle durcheinander
der kindlich freuen kann? – Vor zwanzig Jahren hätte wohl keiner
und erbricht ihre Magensäfte, flüstert zwischendurch immer wie-
sprechen und doch ihr Geheimnis nicht preisgeben. Ich trete einen
der Pensionäre jemals eine Rassel in die Hand genommen. Selt-
der: «Erbarme dich, erbarme dich.» Dann sagt sie: «Ich kann nicht
Schritt zurück, verstumme. Versuche, mit dieser Leiblichkeit wür-
sam, je verwirrter die Leute werden, desto mehr Freude scheinen
mehr leben. Kann nicht mehr singen, nicht mehr lachen. Leben Sie
dig umzugehen und auch die Intimwäsche langsam und klar aus-
sie empfinden zu können. Diejenigen, die noch einen klaren Kopf
für mich.» Dann schläft sie wieder ein, schreckt wenig später hoch:
zuführen, damit diese wichtige Stelle nicht vernachlässigt wird,
haben, missbrauchen ihren Verstand oft nur, um sich selber abzu-
«Si riefe mi, vo überall riefe si mi . . . I will furtlaufe, in Himmel . . .
aber auch nicht länger als nötig beansprucht. Bei den Männern
werten: «Ich bin nichts mehr, eine alte, dumme Kuh.» Ob der
Tien Si mi denn versorge, wenn i dört bi?» Wir warten auf ihren
bleibt die Intimwäsche für mich schwierig, besonders, wenn die
Mensch wohl erst in der körperlichen und seelischen Zersetzung
Vorhaut schwer zurückzuziehen ist und ich lange fummeln muss.
die Kindheit, die Unschuld wiederzuentdecken vermag, ob er so
Drei Tage später ist sie wieder ziemlich wohlauf, läuft herum
Einer zuckte mal zusammen, ich fragte ihn, ob ich ihm weh tue. Er
sein Leben, seinen Körper, der so viel missbraucht und vom Ver-
wie vorher und hat diejenigen, die sie gerufen hatten, vergessen. Es
stöhnte, «nei, s isch mer wohl», und ich fing an zu flattern.
stand geknechtet worden ist, heiligen kann?
kommt mir zunächst so absurd vor, wie der grosse Raum, in dem
Oft sind noch Stützstrümpfe anzuziehen, der Schweiss rinnt mir
Es ist eine langsame Annäherung an den Tod, die hier statt-
sie sich befunden hatte, sie wieder ausgespuckt hat. Ein schlechter
schon aus allen Poren. Fast hätte ich vergessen, vorher noch die
findet. Der Tod befindet sich immer um die Ecke, aber der Pensio-
Film, trotze ich. Aber vielleicht ist da auch noch irgendwas in
Füsse einzucremen. Wie ein Mensch gegangen, wie er gestanden
när steht eben auch bereits davor. Alle haben schon viele Tode er-
ihrem Leben, was sie noch nicht mitgenommen, noch nicht wirk-
ist, sehe ich jetzt, ob er die Beine angespannt, die Zehen in die
lebt, einige haben früh Kinder verloren. Die Tochter einer Bewoh-
lich in sich hineingenommen hat? Und sei es auch nur ein Bissen
Erde gepresst, mörderische Schuhe angezogen hat. Halluxe, Hüh-
nerin starb an einem Hirntumor, der Sohn ihrer Zimmernachbarin
neraugen, verkrüppelte, übereinander gewachsene Zehen, Schwie-
ist jung bei einem Autounfall gestorben. Es hängen Kinderikonen
len, rote oder offene Stellen. Manchmal ist es schwer, nicht voller
an der Wand, das Unglück ist hinter Glas versiegelt worden.
Das Steinböcklein starb drei Tage lang. Vom Mittag des zweiten
Ekel zu erstarren, mein Herz offen zu halten und das Gesehene
Pipo spricht freimütig übers Sterben, sagt, er habe keine Angst
Tages an erhellte sich auf einmal die Atmosphäre in ihrem Zimmer.
doch wieder loslassen zu können. So dass das Leid dieser Füsse
davor, obwohl er nicht an den Himmel glaube. Er sagt: «Wo soll
Sie, die sich mit ihren fast hundert Jahren am Leben mit zusam-
nicht meine eigene Standfestigkeit beeinträchtigt. – Was ist es
denn der Himmel sein, wir hätten dort ja gar nicht alle Platz.» Ich
mengebissenen Kiefern festgehalten hatte, die das Materielle, die
eigentlich, was schön ist an dieser Arbeit? Den Leuten mehrmals
frage ihn, was denn nach dem Tod geschehe. Er sagt: «Wissen Sie,
Stoffe, die Möbel so geliebt hatte, liess auf einmal los, oder besser
täglich den Hintern abzuwischen, oft beschimpft zu werden, die
der Leib verwest, der Sarg verwest auch, aber» – und hier setzt er
vielleicht: Sie wurde entlassen. Sie war von etwas Grösserem ergrif-
meisten Pensionäre wissen morgen schon nicht mehr, wer ich bin,
seine salbungsvolle Stimme ein – «die Knochen, ja die Knochen,
fen worden und hatte noch einmal dreissig Stunden Zeit, um die
wie ich heisse . . . Und all das für einen minimalen Lohn? – Die
die bleiben.» Dies ist sein Glaubensbekenntnis. An die Kirche
höhere Macht auch noch ihren Körper durchdringen zu lassen.
Strümpfe sind angezogen, die spitzen Schühchen auch, ich schaue
könne man nicht mehr glauben, man wisse ja, dass die verlogen
Manchmal driftete sie weg, dann war sie wieder bei Bewusstsein,
ihrer Besitzerin in die Augen. In diesem Moment weiss ich, was es
wir gaben ihr teelöffelweise Wasser ein, befeuchteten ihren Mund
ist, das hier trägt: Es ist die Begegnung mit dem Menschen auf ele-
Eine Abteilungsleiterin sagte mir einmal, sie würde sich eher er-
mit Glycerin. Als sie starb, einfach zu atmen aufhörte, war eine
mentare Weise, es ist Augen- und Hautkontakt, Herzkontakt. Dies
schiessen, als selbst in ein Altersheim zu gehen. Ich sinne lange
wunderbare Wärme in ihrem Körper, den wir vorsichtig wuschen
nährt, und das ist alles. Alle anderen Motivationen sind zum Schei-
über ihre Aussage nach und komme zum Schluss, dass der
und kleideten. Er fühlte sich so lebendig an, irgendwie lebendiger
tern verurteilt. Helfen wollen ist müssig. Das Leid eines alten Men-
«Todespfleger von Luzern» nur das ausgeführt hat, was die Kon-
als drei Tage zuvor. Ihr Lieblingskleid zogen wir ihr an, das mit
schen, der Angst vor dem Tod hat und doch nicht mehr wirklich
sequenz der Einstellung vieler Pflegender ist. Nur deshalb hat wohl
den gelben Blumen, um noch einmal die zu ehren, die sie jetzt
leben kann, übersteigt meine Möglichkeiten bei weitem.
seine Tat, Dutzende von alten Frauen ins Jenseits zu befördern, soviel Entrüstung ausgelöst. Doch denken eben die meisten ihre
schon nicht mehr war. In ihre Hände legen wir Löwenmäulchen,
Gedanken nicht zu Ende, haben Angst vor dem, was da offenbar
eine Dahlie und eine Aster. Nie habe ich die Schwester, der ichhelfe, die Tote zu richten, so bei sich erlebt wie jetzt. Das Gebiss
fügen wir wieder in den Gaumen ein, das gähnende Loch der
Die Gräfin schimpft, wenn wir sie waschen und aufnehmen, sie
Im Altersheim kann ich die Auswüchse einer Gesellschaft beob-
Mundhöhle wird geschlossen. Der Durchgang ist vollendet, der
schreit und beisst und kneift, wo immer sie einen unserer Hintern
achten, welche die Verantwortung an abstrakte Systeme und
Leib leer und reif, der Erde übergeben zu werden. Es ist so viel
zu fassen bekommt. Grob sind wir und böse, sagt sie, und über-
Regeln abgegeben hat, für die letztlich keiner einsteht. Das Perso-
Raum auf einmal im Zimmer, durch diesen Leib hindurch strömt
haupt sei das hier eine altmodische Einrichtung. Sie gehe wieder
nal überantwortet sich der Hygiene und den Medikamenten, die
so viel Weite, Licht und Wärme, und jeder, der hereinkommt, wird
zurück nach Kalifornien. Das Essen zu bestellen, meint sie, habe
Bewohner vertrauen blind dem Personal. Sie wollen nichts wissen
keinen Sinn, sie sei morgen nicht mehr da. Ich seufze, ja, ich
über die Tabletten, die ihnen gereicht werden, schlucken sie vor-
Aber zwei Stunden später kommen zwei grobschlächtige Män-
komme auch mit nach Kalifornien, und überrede sie dann, doch
behaltlos. Ja, es scheint oft, dass diese ihnen Gott ersetzen, dass sie
ner mit stumpfem Blick, vom Beerdigungsinstitut, und bringen das
etwas zu bestellen, nur für den Fall, dass sie morgen kein Flug-
an die Medikamente glauben. Ewiges Leben auf Vorschuss, und
Steinböcklein weg. Wie viel Kraft wohl diese Männer brauchen,
ticket mehr bekomme. Sie kann das Altersheim nur als Provisorium
wenn jemand stirbt, ist das nur ein dummer Fehler der Medizin.
um Gedanken an den Tod von sich wegzuschieben? Dagegen,
ertragen, obwohl sie schon zehn Jahre hier lebt. Auch Anneli sagt
Keiner kommt auf die Idee, dass etwas nicht stimmen könnte,
denke ich, muss eine bis aufs Skelett abgemagerte Achtundneun-
immer, sie habe noch eine Wohnung «dort oben», und dorthin
wenn eine Pensionärin ihre Schlaftablette mit drei Tassen Kaffee
zigjährige wahrscheinlich sehr wenig wiegen.
gehe sie dann, wenn es ihr hier nicht mehr gefalle.
herunterspült. Oder wenn ein Bewohner, der noch rüstig war,
Die Männer waschen sich ausführlich die Hände. Als der Sarg
Die Gräfin hat ein Gesicht aus Kristall, durch das manchmal
innert kürzester Zeit nach Eintritt völlig verwirrt wird, fragt keiner
durch den Wohnbereich getragen wird, sitzen die Bewohner vor
die Sonne bricht, dann ist sie wunderschön. Sie ist über hundert
nach der Medikation, nach Beruhigungsmitteln, die ihm gegeben
dem Fernseher und schauen «Für alle Fälle Stefanie». Keiner dreht
Jahre alt. Früher war sie Lehrerin, und manchmal schimpft sie über
wurden, weil er zu lebendig war. Am Rapport wird gesagt: «Wir
sich um. Am Bildschirm wird auf dramatische Weise einem Unfall-
ihre Schülerinnen, die dumm und faul gewesen seien. Noch öfter
haben Frau X zehn Tropfen Haldol gegeben, weil sie immer wieder
aber befindet sie sich in ihrer Kindheit, der Nonno, sagt sie, werde
aufstehen wollte.» Keiner erhebt Einspruch. Lili weint, heult, und
sie gleich abholen und in den grossen Garten mitnehmen. Und von
als sie nicht auf die Fragen antworten will, warum sie heule(«Haben Sie Schmerzen? Haben Sie Hunger? Müssen Sie aufs
Are you concerned that you or a family member might be sick with H1N1 flu? Follow this set of questions and find out what to do. Question #1: Does the patient have a new cough, or new shortness of breath (not related to feeling anxious)? No… be reassured, they do not have H1N1. Stop right here. Yes… Continue with questionnaire. Note: sore throat or runny nose, without c
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