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Luce würde für Daniel sterben. Und sie hat es getan, wieder und wieder: Seit einer Ewigkeit finden die beiden einander, nur um sich immer aufs Neue zu verlieren. Luce ist sich sicher, dass irgendwo in ihrer Vergangenheit der Schlüssel liegt, um dem ewigen Fluch zu entkommen, der auf ihr und Daniel lastet. Und so reist sie zurück in der Zeit, zurück in ihre früheren Leben, um den Weg aus der Ver-dammnis zu finden. Cam, die gefallenen Engel, Luces’ Freunde Miles und Shelby, sie alle brechen auf, um Luce auf ihrer Reise in die Ver-gangenheit zu folgen. Doch keiner sucht sie so verzweifelt wie Daniel – voller Angst, Luce könnte die Geschichte neu schreiben. Dann nämlich könnte ihre große Liebe in Flammen aufgehen … für immer.
Lauren Kate wuchs in Dallas auf, arbeitete einige Zeit in einem New Yorker Verlag und zog dann nach Kalifornien, wo sie Creative Writing studierte, bevor sie zu schreiben begann. Ihre romantische Fantasyserie über den gefallenen Engel Daniel und seine große Liebe Luce wurde weltweit zum Bestseller.
Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifi zierte Copyright 2011 by Tinderbox, LLC and Lauren Kate Copyright 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Printed in Germany 2014Redaktion: Carola Henke Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, Fernanda Brussi Goncalves mit Rebecca Roeske Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Fängst du mich nicht gleich – verlier nicht den Mut, Verpasst du mich hier, suchst du mich dort, Irgendwo mach ich halt und warte auf dich. Ein Schuss krachte. Mit einem einzigen Knall öffnete sich die breite Front der Startboxen. Das Stampfen der Pferde- hufe hallte über die Rennbahn wie fernes Donnergrollen.
Sophia Bliss schob die mehr als halbmeterbreite Krempe ihres Federhutes zurecht. Er war blass malvenfarben und ein Chiffonschleier hing davon herab. Mit diesem Hut ging sie locker als regelmäßige Rennbahnbesucherin durch, aber er war nicht so auffällig, dass sie unerwünschte Aufmerksam- Sie hatten ihre drei Hüte für diesen Renntag bei einer Modistin in Hilton Head als Sonderanfertigungen in Auf- trag gegeben. Der zweite – ein buttergelbes Häubchen – bedeckte den schneeweißen Kopf von Lyrica Crisp, die links neben Miss Sophia saß und sich an einem Cornedbeef- Sandwich gütlich tat. Und der letzte, ein gischtgrüner Filz- hut mit breitem, grob gepunktetem Seidenband, krönte die pechschwarze Mähne von Vivina Sole. Sie saß zu Miss Sophias Rechten und hatte die weiß behandschuhten Hän- de auf dem Schoß gefaltet, als könne sie kein Wässerchen »Was für ein herrlicher Tag für ein Rennen«, bemerkte Lyrica. Mit ihren einhundertsechsunddreißig Jahren war sie die jüngste der Ältesten der Zhsmaelim. Sie wischte sich einen Senfklecks aus dem Mundwinkel. »Könnt ihr glau- ben, dass ich heute zum ersten Mal auf einer Rennbahn »Scht«, zischte Sophia. Lyrica war dermaßen unbedarft. Heute ging es überhaupt nicht um Pferde, sondern um ein heimliches Zusammentreffen großer Geister. Auch wenn die anderen großen Geister noch nicht aufgetaucht waren. Sie würden schon noch kommen. Der absolut neutrale Treffpunkt war Sophia in der mit Goldlettern geprägten Einladung mitgeteilt worden, die sie von einem unbekann- ten Absender erhalten hatte. Die anderen würden kommen und sich offenbaren und gemeinsam würden sie einen An- griffsplan schmieden. Jeden Augenblick musste es so weit »Ein schöner Tag für einen schönen Sport«, sagte Vivina trocken. »Ein Jammer, dass unser Pferdchen in diesem Ren- nen nicht in so leicht berechenbaren Bahnen läuft wie diese Jungstuten hier. Nicht wahr, Sophia? Wer würde schon da- rauf wetten, wo das Vollblut Lucinda über die Ziellinie »Ich sagte Scht«, flüsterte Sophia. »Hüte deine vorlaute »Du bist paranoid«, gab Vivina zurück, was Lyrica ein »Ich bin die, die übrig geblieben ist«, sagte Sophia. Es hatte früher so viele weitere gegeben  – vierundzwanzig Älteste zur Blütezeit der Zhsmaelim. Eine Gruppe von Sterblichen, Unsterblichen und einigen Transhimmlischen wie Sophia selbst. Eine Achse des Wissens, der Leiden- schaft und des Glaubens, mit einem einzigen einenden Ziel: Die Welt in ihren Zustand vor dem Höllensturz zurückzu- führen, zu diesem flüchtigen, herrlichen Augenblick vor dem Sturz der Engel. Auf Gedeih und Verderb.
So stand es glasklar in dem Kodex, den sie gemeinsam verfasst und den sie alle unterzeichnet hatten: Auf Gedeih und Denn es konnte tatsächlich so oder so ausgehen.
Jede Münze hatte ihre zwei Seiten. Kopf und Zahl. Hell Es war wohl kaum Sophias Schuld, dass die anderen Ältesten sich nicht auf beide Möglichkeiten vorbereitet hatten. Aber sie hatte die Vorwürfe über sich ergehen lassen müssen, als einer nach dem anderen seinen Rückzug kund- getan hatte. Eure Ziele werden zu dunkel. Oder: Das Niveau der Organisation ist gesunken. Oder: Die Ältesten sind zu weit von ihrem ursprünglichen Kodex abgewichen. Der erste Schwung von Brie- fen war, wie vorauszusehen, innerhalb einer Woche nach dem Zwischenfall mit dieser Pennyweather eingetroffen. Das sei für sie absolut unerträglich, hatten sie behauptet. Der Tod eines einzigen bedeutungslosen Kindes! Ein einzi- ger unbedachter Augenblick mit einem Dolch, und plötzlich bekamen die Ältesten es mit der Angst. Sie alle fürchteten Sophia fürchtete die Waage nicht. Ihre Aufgabe war es, den Gefallenen, nicht den Gerechten beizustehen. Niederen Engeln wie Roland Sparks und Arriane Alter. Solange man dem Himmel nicht abtrünnig wurde, hatte man ein wenig Spielraum. Verzweifelte Zeiten schrien förmlich nach ver- zweifelten Maßnahmen. Sophia wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als sie die hasenfüßigen Ausflüchte der anderen Ältesten gelesen hatte. Jeder Versuch, diese Feig- linge zurückzugewinnen, war aussichtslos  – und Sophia wollte sie auch nicht wieder dabeihaben. Und so war Sophia Bliss – die Schulbibliothekarin, die im Vorstand der Zhsmaelim immer nur als Sekretärin gedient hatte  – jetzt die ranghöchste Vertreterin der Ältesten. Von denen es nur noch zwölf gab, und neun davon konnte man nicht trauen.
Also waren nur sie drei heute hier mit ihren pastellfarbi- gen Hüten und platzierten, um den Schein zu wahren, Wet- ten auf die Rennen. Und warteten. Einfach armselig, wie Ein Rennen endete gerade und über Lautsprecher wur- den die Sieger und die vorläufigen Quoten für das nächste Rennen bekannt gegeben. Ringsum begannen unterschieds- los gut betuchte wie etwas heruntergekommene Wetter zu jubeln; andere sackten in ihren Sitzen zusammen.
Und ein Mädchen von etwa neunzehn Jahren mit weiß- blondem Pferdeschwanz, braunem Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille mit dicken Gläsern kam langsam die Alumi- Sophia versteifte sich. Was wollte sie hier? Es war unmöglich zu erkennen, wohin das Mädchen blickte, und Sophia gab sich alle Mühe, es nicht anzustar- ren. Obwohl das eigentlich egal war; das Mädchen würde sie ohnehin nicht sehen können. Es war blind. Aber trotz- Die Outcast nickte Sophia einmal zu. Oh ja – diese Nar- ren konnten das Brennen einer Seele sehen. Auch wenn sie nur schwach war, musste Sophias Lebenskraft sichtbar sein.
Das Mädchen nahm in der leeren Reihe vor den Ältesten Platz, wandte sich der Rennbahn zu und spielte mit einem Fünfdollarwettschein, den ihre blinden Augen nicht lesen »Hallo.« Die Stimme der Outcast war monoton. Sie »Ich weiß wirklich nicht, warum du hier bist«, sagte Miss Sophia. Es war ein feuchter Novembertag in Kentucky, aber auf ihrer Stirn stand eine dünne Schicht Schweiß. »Unsere Zusammenarbeit ist zu Ende, seit deine Leute es nicht ge- schafft haben, das Mädchen zurückzuholen. Und das wird sich auch nicht mehr ändern, ganz gleich, was dieser Phillip, oder wie er sich nennt, noch an Gefasel von sich geben wird.« Sophia beugte sich vor, dichter an das Mädchen heran, und rümpfte die Nase. »Alle wissen, dass man den »Wir sind nicht euretwegen hier«, erwiderte die Outcast und starrte geradeaus. »Ihr wart nur ein Mittel für uns, um näher an Lucinda heranzukommen. Wir haben nach wie vor kein Interesse daran, mit euch ›zusammenzuarbeiten‹.« »Auf eure Organisation gibt heute keiner mehr auch nur einen Pfifferling.« Schritte auf der Tribüne.
Der Junge war hochgewachsen und schlank, mit rasier- tem Kopf und einem ähnlichen Trenchcoat, wie das Mädchen ihn trug. Seine Sonnenbrille war von der billigen Sorte, Plastik, wie man sie in jedem Drugstore kaufen konnte.
Phillip ließ sich direkt neben Lyrica Crisp auf die Bank fallen. Wie das Mädchen wandte er sich ihnen nicht zu, als »Es überrascht mich nicht, dich hier anzutreffen, Sophia.« Er schob die Sonnenbrille ein Stück die Nase herunter und enthüllte zwei leere weiße Augen. »Aber es enttäuscht mich, dass du es nicht fertiggebracht hast, mir von deiner Einla- Lyrica schnappte angesichts der schrecklichen weißen Flächen hinter seinen Brillengläsern nach Luft. Selbst Vivina verlor ihre kühle Fassung und prallte zurück. Sophia kochte Die Outcast hielt ihnen zwischen ausgestreckten Fin- gern eine goldene Karte hin – die gleiche Einladung, die Sophia erhalten hatte. »Wir haben das hier bekommen.« Nur, dass diese Karte so aussah, als sei sie in Blindenschrift geschrieben worden. Sophia griff danach, um sich davon zu überzeugen, aber mit einer schnellen Bewegung ver- schwand die Einladung wieder im Trenchcoat des Mäd- »Hört mal, ihr kleinen Würstchen. Ich habe eure Ster- nenpfeile mit dem Emblem der Ältesten gezeichnet. Ihr »Richtigstellung«, unterbrach Phillip sie. »Die Outcasts arbeiten für niemanden außer für sich selbst.« Sophia beobachtete, wie er leicht den Hals reckte und so tat, als verfolge er ein Pferd auf der Bahn. Es war ihr immer unheimlich gewesen, wie sie den Eindruck erweckten, sehen zu können. Obwohl doch jeder wusste, dass er sie hatte erblinden lassen. Mit einem Fingerschnippen.
»Schöne Arbeit, die ihr da geleistet habt. Ihr habt es voll vermasselt.« Sophias Stimme schwoll stärker an, als ihr lieb war, und sie zog die Blicke eines älteren Ehepaares auf sich, das sich gerade einen Platz auf der Tribüne suchte. »Wir hätten zusammenarbeiten sollen«, zischte sie, »um sie zur Strecke zu bringen, und – und ihr habt versagt.« »Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.« »Sie hätte sich so oder so in der Zeit verloren. Das war immer ihre Bestimmung. Und die Ältesten würden sich auch dann an einen Strohhalm geklammert haben. Denn so Sie wollte sich auf ihn stürzen und ihn würgen, bis ihm die großen weißen Augen aus dem Kopf traten. Ihr Dolch fühlte sich an, als brenne er ein Loch durch die Kalbsleder- handtasche auf ihrem Schoß. Wenn es doch nur ein Ster- nenpfeil gewesen wäre. Sophia sprang auf, als hinter ihnen »Bitte setzt euch«, donnerte die Stimme. »Die Versamm- Die Stimme. Sie wusste sofort, wem sie gehörte. Ruhig und autoritär. Absolut demütigend. Sie ließ die Tribünen Die Sterblichen in ihrer Nähe bemerkten nichts, aber eine Hitzewelle kroch Sophias Nacken hinauf. Sie kroch durch ihren Körper und machte sie benommen. Es war keine gewöhnliche Furcht. Es war lähmende, übelkeiterregende Ein kurzer, vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel zeig- te ihr einen Mann in maßgeschneidertem schwarzem An- zug. Dunkles, kurz geschnittenes Haar, das größtenteils unter einem schwarzen Hut steckte. Das Gesicht, freund- lich und attraktiv, war nicht besonders einprägsam. Glatt rasiert, mit einer geraden Nase und braunen Augen, die ihr vertraut vorkamen. Obwohl Miss Sophia ihn noch nie zu- vor ge sehen hatte. Und trotzdem wusste sie sofort, wer er war, als hätte sie ihn schon immer gekannt.
»Wo ist Cam?«, fragte die Stimme hinter ihnen. »Er hat »Steckt vermutlich in irgendeinem Verkünder und spielt Gott. Wie die Übrigen«, platzte Lyrica heraus und handelte sich damit einen Schlag von Sophia ein.
»Er spielt Gott, hast du gesagt?« Sophia suchte nach den Worten, die eine solche Entglei- sung wiedergutmachen konnten. »Einige der anderen sind Lucinda in die Vergangenheit gefolgt«, sagte sie schließ- lich. »Darunter zwei Nephilim. Wir wissen nicht genau, »Darf ich fragen« – die Stimme klang plötzlich eiskalt –, »warum niemand von euch ihr gefolgt ist?« Sophia hatte Mühe zu schlucken und zu atmen. Ihre intuitivsten Bewegungen wurden durch Panik gelähmt. »Wir können nicht direkt, nun … wir haben noch nicht die Die Outcast fiel ihr ins Wort. »Die Outcasts sind gerade »Ruhe«, befahl die Stimme. »Erspart mir eure Ausreden. Sie spielen keine Rolle mehr, gerade so wie ihr keine Rolle Lange Zeit waren alle still. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wie man ihn zufriedenstellen konnte. Als er endlich weitersprach, war seine Stimme leiser, aber nicht weniger einschüchternd. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann Dann fuhr er leise fort: »Es ist an der Zeit, dass ich die Sophia konnte ein Aufkeuchen gerade noch unterdrücken und ihr Entsetzen verbergen. Aber ihr Zittern konnte sie nicht beherrschen. Er nahm die Dinge selbst in die Hand? Das war wahrhaftig die denkbar beängstigendste Aussicht. Unvorstellbar, mit ihm zu arbeiten, um … »Ihr werdet euch heraushalten«, sagte er. »Das ist alles.« »Aber …« Es war ein Versehen, doch schon hatte Sophia das Wort über die Lippen gebracht. Sie konnte es nicht zu- rücknehmen. Doch all ihre Jahrzehnte harter Arbeit. All Es folgte ein langgezogenes, erderschütterndes Brüllen.
Es ließ die Tribünen erzittern und schien sich im Bruch- teil einer Sekunde über die ganze Rennbahn zu verbrei- Sophia wand sich. Das Brüllen schien sie zu durchdrin- gen und sie im tiefsten Kern ihres Wesens zu erschüttern. Es war, als würde ihr das Herz in Stücke gerissen.
Lyrica und Vivina drückten sich an sie, die Augen fest zugepresst. Selbst die Outcasts zitterten.
Sophia dachte schon, das Brüllen würde niemals vereb- ben und bald ihr Tod sein, als es einer so absoluten Stille wich, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören kön- Zeit genug, um sich umzuschauen und festzustellen, dass die anderen Rennbahnbesucher nicht das Geringste gehört Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Deine Zeit bei dieser Mission ist abgelaufen. Wage es nicht, mir in die Quere zu Unten fiel ein weiterer Schuss. Abermals öffnete sich schlagartig die Reihe der Startboxen. Nur dass diesmal das Hämmern der Hufe auf der Bahn kaum zu hören war. Wie ein sanfter Regen auf einem Baldachin aus Baumkro- Noch bevor die Rennpferde die Startlinie überquert hat- ten, war die Gestalt hinter ihnen verschwunden. Zurück blieben nur kohlschwarze Hufabdrücke, die sich in die Bretter der Haupttribüne eingebrannt hatten.
Die Stimmen erreichten sie in der unergründlichen Sie kümmerte sich nicht darum und drängte weiter. Die schattenartigen Wände des Verkünders warfen Echos ihres Namens zurück, die ihr wie Hitzezungen über die Haut leckten. War das Daniels Stimme oder Cams? Arrianes oder Gabbes? Flehte Roland sie an, sofort zurückzukommen, Die Rufe ließen sich immer schwerer unterscheiden, bis Luce sie überhaupt nicht mehr auseinanderhalten konnte: Gut und Böse. Feind und Freund. Sie hätten klarer zu tren- nen sein sollen, aber nichts war länger klar. Alles, was einst schwarz und weiß gewesen war, verschmolz jetzt zu Grau.
Natürlich waren sich beide Seiten in einem Punkt einig: Alle wollten sie aus dem Verkünder holen. Zu ihrem Schutz, Nicht nachdem sie den Garten ihrer Eltern verwüstet, ihn zu einem weiteren ihrer staubigen Schlachtfelder ge- macht hatten. Wenn sie allerdings an ihre Eltern dachte, verspürte sie durchaus den Wunsch umzukehren – nur dass sie keine Ahnung hatte, wie man in einem Verkünder kehrt- Eine Umkehr kam ohnehin nicht infrage. Cam hatte ver- sucht, sie zu töten. Er hatte zwar nur auf ein Abbild von ihr gezielt, aber das hatte er nicht gewusst. Und Miles hatte sie gerettet, aber das machte es nicht einfacher. Er hatte nur deshalb dieses Abbild vor ihr projizieren können, weil ihm Und Daniel? Lag ihm genug an ihr? Sie wusste es nicht.
Und zum Schluss, als sie sich den Outcasts ergeben hat- te, hatten Daniel und die anderen Luce angestarrt, als sei sie diejenige, die ihnen etwas schuldig war.
Du bist unsere Eintrittskarte in den Himmel, hatte der Outcast ihr erklärt. Der Preis. Was hatte das zu bedeuten? Bis vor zwei Wochen hatte sie nicht einmal gewusst, dass die Out- casts existierten. Und doch wollten sie etwas von ihr – so sehr, dass sie sogar gegen Daniel gekämpft hatten. Es muss- te etwas mit dem Fluch zu tun haben, dem Fluch, der dafür sorgte, dass Luce Leben um Leben wiedergeboren wurde. Und was erwarteten sie eigentlich von ihr? Was sollte sie Ihr Magen schlingerte, als sie – tief im Schlund des dunk- len Verkünders aller Wahrnehmung beraubt  – durch den Die Stimmen verblassten und wurden leiser. Schon bald waren sie kaum mehr als ein Flüstern. Beinah so, als hätten … sie wieder lauter wurden. Lauter und deutlicher.
Nein. Sie presste die Augen fest zusammen in dem ver- zweifelten Versuch, sie auszublenden.
Sie fror und sie war müde und sie wollte nichts mehr hören. Sie wollte endlich in Ruhe gelassen werden.
Mit einem dumpfen Laut trafen ihre Füße auf.
Sie stand auf festem Grund, aber sie sah immer noch nichts vor sich außer einem Vorhang aus Schwärze. Dann blickte sie auf ihre Converse-Sneakers hinab.
Sie stand in dickem Schnee, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die feuchte Kühle, an die sie sich inzwischen ge- wöhnt hatte – der schattenumwallte Tunnel, durch den sie aus ihrem Garten in die Vergangenheit gelangt war –, hatte sich in etwas anderes verwandelt. Einen Ort, an dem es Bei Luce’ erster Reise durch einen Verkünder  – von ihrem Wohnheimzimmer in Shoreline nach Las Vegas  – hatten ihre Freunde Shelby und Miles sie begleitet. Am Ende waren sie auf ein Hindernis gestoßen, einen dunklen, schattenhaften Vorhang zwischen ihnen und der Stadt. Weil Miles als Einziger etwas darüber gelesen hatte, wie man einen Verkünder für diesen Zweck benutzte, hatte er auch als Einziger gewusst, was zu tun war, und den Verkünder mit kreisförmigen Bewegungen abgewischt, bis die trüben schwarzen Schatten abgeblättert waren. Erst jetzt wurde Luce klar, dass er einfach eine Störung beseitigt hatte.
Diesmal gab es kein Hindernis. Vielleicht weil sie allein reiste, durch einen Verkünder, den sie mit ihrer eigenen Willenskraft heraufbeschworen hatte. Und sie konnte ihn ohne Weiteres verlassen. Beinahe zu leicht. Der Schleier Ein eisiger Windstoß ließ sie zusammenfahren. Sie press- te vor Kälte die Knie zusammen, ihre Brust wurde klamm und ihr tränten die Augen von der scharfen Bö.
Luce bedauerte ihren panischen Sprung durch die Zeit bereits. Ja, sie hatte entkommen müssen, und ja, sie wollte ihre Vergangenheit zurückverfolgen, um ihre früheren Ichs vor all dem Schmerz zu bewahren, um zu verstehen, was für eine Art Liebe sie bei all diesen anderen Malen mit Daniel verbunden hatte. Um sie zu fühlen, statt nur davon erzählt zu bekommen. Um zu verstehen  – und dann in Ordnung zu bringen –, was immer das für ein Fluch war, mit dem sie und Aber nicht so. Verfroren, allein und vollkommen unvor- bereitet auf den Ort und den Zeitpunkt, die sie jetzt zufällig Vor sich sah sie eine verschneite Straße mit weißen Häu- sern und darüber einen stahlgrauen Himmel. In der Ferne rumpelte oder grollte etwas. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte.
»Warte«, flüsterte sie dem Verkünder zu.
Der vage Schatten waberte etwa einen halben Meter vor ihren Fingerspitzen. Sie versuchte, ihn zu fassen, aber der Verkünder wich ihr aus und entfernte sich weiter. Sie sprang ihm nach und erwischte ein winziges, feuchtes Stückchen … Aber im nächsten Augenblick löste sich auch das in weiche schwarze Partikel auf, die in den Schnee rieselten, verblassten und im Nu verschwunden waren.
»Toll«, murmelte sie. »Und was jetzt?« In der Ferne wand die schmale Straße sich nach links und führte auf eine düstere Kreuzung. Auf den Gehwegen türm- te sich der beiseitegeschaufelte Schnee entlang der ge- schlossenen Häuserreihe aus weißem Stein. Die Bauten wa- ren beeindruckend und anders als alles, was Luce je gesehen hatte. Sie waren mehrere Stockwerke hoch und ihre Fas- saden bestanden aus Reihen leuchtend weißer Bögen und Alle Fenster waren dunkel. Die ganze Stadt schien im Dunkeln zu liegen. Lediglich eine vereinzelte Gaslaterne spendete spärliches Licht. Falls der Mond irgendwo am Himmel stand, dann hinter einer dichten Wolkendecke. Wieder grollte etwas in der Ferne. Donner? Luce schlang sich die Arme um den Leib. Sie fror.
Eine Frauenstimme. Heiser und schnarrend, wie die Stimme einer Person, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, Befehle zu blaffen. Aber die Stimme zitterte auch.
Sie klang jetzt näher. Sprach sie mit Luce? Da war noch etwas anderes an dieser Stimme, etwas Seltsames, das Luce Dann kam eine Gestalt um die verschneite Straßenecke gehumpelt. Luce starrte die Frau an und versuchte, sie ir- gendwo einzuordnen. Sie war sehr klein und ging ein wenig vornübergebeugt. Vielleicht Ende sechzig. Ihre bauschigen Kleider schienen ihr viel zu groß zu sein. Das Haar hatte sie unter einem dicken schwarzen Schal verborgen. Als sie Luce sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer schwer zu deu- Luce schaute sich um. Außer ihnen beiden war niemand auf der Straße. Die alte Frau sprach mit ihr.
»Genau hier«, hörte sie sich sagen.
Sie schlug sich eine Hand auf den Mund. Das war es also, was ihr an der Stimme der alten Frau so bizarr erschienen war: Sie sprach eine Sprache, die Luce nie gelernt hatte. Und doch verstand Luce nicht nur jedes Wort, sie konnte »Ich könnte dich umbringen«, fuhr die Frau fort und atmete schwer, während sie auf Luce zueilte und sie in die Für eine Frau, die so zerbrechlich wirkte, war ihre Umar- mung sehr stark. Die Wärme eines anderen Körpers weckte in Luce nach so viel intensiver Kälte beinah den Wunsch zu weinen. Sie erwiderte die Umarmung heftig.
»Oma?«, flüsterte sie, ihre Lippen dicht am Ohr der Frau, weil sie irgendwie wusste, dass diese Frau ihre Groß- »Dass du ausgerechnet heute Abend nicht zu Hause bist, wenn ich von der Arbeit komme«, sagte die Frau, »und stattdessen wie eine Verrückte mitten auf der Straße herum- springst? Bist du überhaupt zur Arbeit gewesen?« Da war es wieder, dieses Rumpeln am Himmel. Es klang, als käme ein schlimmes Gewitter näher, und zwar schnell. Luce schauderte und schüttelte den Kopf. Sie wusste es »Aha«, sagte die Frau, »jetzt bist du nicht mehr so sorg- los.« Sie blinzelte Luce an, dann schob sie sie von sich, um sie genauer anzusehen. »Mein Gott, was hast du da an?« Luce trat nervös von einem Bein aufs andere, während die Großmutter ihres vergangenen Lebens ihre Jeans an- starrte und mit knotigen Fingern über die Knöpfe von ihrer Flanellbluse strich. Sie packte Luce’ kurzen, verhedderten Pferdeschwanz. »Manchmal denke ich, du bist genauso ver- rückt wie dein Vater, möge er in Frieden ruhen.« »Ich habe nur …« Luce’ Zähne klapperten. »Ich wusste Die Frau spuckte in den Schnee, um ihre Missbilligung zu zeigen. Dann zog sie ihren dicken Mantel aus. »Nimm den hier, bevor du dir den Tod holst.« Sie wickelte den Mantel grob um Luce, die mit halb erfrorenen Fingern ver- suchte, ihn zuzuknöpfen. Dann nahm sich ihre Großmutter noch den Schal vom Hals und wickelte ihn Luce um den Ein gewaltiges Krachen am Himmel erschreckte sie bei- de. Jetzt wusste Luce, dass es kein Donner war. »Was ist Die alte Frau starrte sie an. »Der Krieg«, murmelte sie. »Hast du nicht nur deine Kleider, sondern auch den Ver- stand verloren? Komm jetzt. Wir müssen gehen.« Während sie sich durch die verschneiten Straßen kämpf- ten, über die unebenen Pflastersteine und die in sie einge- lassenen Straßenbahnschienen, begriff Luce, dass die Stadt doch nicht verlassen war. Es standen zwar nur wenige Autos am Straßenrand, aber gelegentlich hörte sie aus den ver- dunkelten Nebenstraßen das Wiehern von Kutschpferden und sah die Andeutung der weißen Wolken, die ihr Atem vor ihren Nüstern bildeten. Nur als Silhouetten erkennbare Gestalten huschten über Dächer. Am Ende einer Gasse half ein Mann in einem zerrissenen Mantel drei kleinen Kindern Die schmale Straße führte sie zu einer breiten Allee mit einem weiten Blick auf die Stadt. Die einzigen Autos, die hier parkten, waren Militärfahrzeuge. Sie sahen altmodisch aus, wie Relikte in einem Kriegsmuseum: offene Jeeps mit gewaltigen Kotflügeln und knochendünnen Lenkrädern, auf deren Türen Hammer und Sichel der Sowjets prangten. Aber abgesehen von Luce und ihrer Großmutter war jetzt niemand sonst mehr zu sehen. Alles – bis auf das schreck- liche Dröhnen am Himmel – war geisterhaft, war unheim- In der Ferne konnte sie einen Fluss ausmachen und jen- seits davon ein großes, weitläufiges Gebäude. Selbst in der Dunkelheit waren dessen kunstvoll geschichteten Türme und die prunkvollen, zwiebelförmigen Kuppeln zu erken- nen, die ihr gleichzeitig vertraut und mystisch vorkamen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff – und dann durch- Es herrschte Krieg und die Stadt lag an der Front.
Schwarzer Rauch erhob sich in den grauen Himmel, wo die Stadt bereits getroffen worden war: Links des gewalti- gen Kreml und direkt dahinter und dann wieder in der Ferne ganz rechts. Auf den Straßen wurde nicht gekämpft, und es gab keine Anzeichen dafür, dass bereits feindliche Soldaten in die Stadt vorgedrungen waren. Aber Flammen züngelten an den verkohlten Gebäuden, der Brandgeruch des Krieges war überall, und noch schwerer wog die Drohung, dass es Derart hatte Luce in ihrem ganzen Leben – wahrschein- lich in all ihren Leben – noch nichts vermasselt. Ihre Eltern würden sie umbringen, wenn sie wüssten, wo sie war. Daniel würde vielleicht nie wieder mit ihr sprechen.
Aber vielleicht bekamen sie erst gar nicht die Gelegen- heit, wütend auf sie zu sein? Sie konnte gleich hier an der Weil sie es hatte tun müssen. Es war schwer, bei all ihrer Panik zu diesem kleinen Anflug von Stolz zurückzufinden, aber er war ihr noch nicht ganz verloren gegangen.
Sie hatte einen Verkünder benutzt. War hindurchgeschritten. Ganz allein. Zu einem fernen Ort und in eine lang vergan- gene Zeit, in die Vergangenheit, die sie verstehen musste. Das war es, was sie gewollt hatte. Sie war lange genug he rumgeschoben worden wie eine Schachfigur.
Sie beschleunigte ihren Schritt und klammerte sich an die Hand ihrer Großmutter. Seltsam, diese Frau hatte keine Vorstellung davon, was Luce tatsächlich durchmachte, nicht einmal eine Ahnung, wer sie wirklich war, und doch war der Griff ihrer alten Hand das Einzige, was Luce hier »Wohin gehen wir?«, fragte Luce, als ihre Großmutter sie durch eine weitere verdunkelte Straße zog. Bald war das Pflaster zu Ende und die Straße wurde uneben und glit- schig. Der Schnee hatte Luce’ Tennisschuhe inzwischen völlig durchnässt und ihre Zehen begannen vor Kälte zu »Kristina abholen, deine Schwester.« Die alte Frau runzelte die Stirn. »Die nachts hilft, mit bloßen Händen Schützengräben auszuheben, damit du deinen Schönheits- schlaf bekommst. Hast du sie vergessen?« Wo sie sich jetzt befanden, gab es keine Straßenlaternen mehr. Luce riss die Augen weit auf, aber es dauerte dennoch eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah Luce, dass sie direkt vor einem sehr langen Gra- ben standen, der sich quer durch die Stadt zu ziehen schien.
Hunderte von Menschen waren dort an der Arbeit, alle bis an die Ohren vermummt. Einige lagen auf den Knien und gruben mit Schaufeln. Andere schürften mit bloßen Händen. Manche standen wie erstarrt da und beobachteten den Himmel. Eine Gruppe Soldaten karrte schwere Ladun- gen Erde und Stein in splittrigen Schubkarren und Bauern- wagen davon, zu der Schanze am Ende der Straße. Sie trugen dicke wollene Uniformmäntel und ihre Gesichter unter den Stahlhelmen wirkten genauso ausgezehrt wie die der Zivilisten. Lucinda verstand, dass sie alle zusammen- arbeiteten, die Männer in Uniform und die Frauen und Kin- der, die ihre Stadt in eine Festung verwandelten und taten, was sie konnten, um die feindlichen Panzer noch im letzten »Kristina«, rief ihre Großmutter, und wie vor einigen Minuten, als sie nach Luce gesucht hatte, war ihre Stimme von Panik und Liebe zugleich erfüllt.
Fast sofort erschien ein Mädchen an ihrer Seite. »Wes- Hochgewachsen und dünn, mit dunklen Haarsträhnen, die unter dem runden, flachen Hut hervorlugten, war Kris- tina so schön, dass es Luce den Atem verschlug. Sie erkann- te in dem Mädchen sofort eine Verwandte.
Ihr Anblick erinnerte Luce an Vera, die Schwester aus einem anderen vergangenen Leben. Luce musste im Laufe der Zeit Hunderte Schwestern gehabt haben. Tausende. Sie alle würden etwas Ähnliches durchgemacht haben. Schwes- tern und Brüder und Eltern und Freunde, die Luce geliebt und dann verloren hatten. Keiner von ihnen hatte gewusst, was kommen würde. Sie alle waren zurückgeblieben, um zu Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das zu verändern, es den Menschen, die sie geliebt hatten, leichter zu machen. Vielleicht war das Teil dessen, was Luce in ihren vergan- Der Donner einer gewaltigen Explosion erschütterte die Stadt. Nah genug, dass der Boden unter Luce’ Füßen schwankte und ihr rechtes Trommelfell sich anfühlte, als würde es platzen. An der nächsten Ecke heulte eine Sirene »Baba.« Kristina fasste ihre Großmutter am Arm. Sie war den Tränen nah. »Die Nazis  – sie sind schon hier, nicht Die Deutschen. Luce war bei ihrer ersten Zeitreise auf eigene Faust gleich mitten im Zweiten Weltkrieg gelandet. »Sie greifen Moskau an?« Ihre Stimme zitterte. »Heute »Wir hätten die Stadt mit den anderen verlassen sollen«, sagte Kristina voller Bitterkeit. »Jetzt ist es zu spät.« »Und deine Mutter, deinen Vater und deinen Großvater im Stich lassen?« Baba schüttelte den Kopf. »Sie in ihren »Sollen wir lieber mit ihnen auf dem Friedhof liegen?«, zischte Kristina zurück. Sie umklammerte Luce’ Arm. »Hast du von dem Angriff gewusst? Du und dein Freund, der Kulak? Bist du deshalb heute Morgen nicht zur Arbeit ge- kommen? Du warst mit ihm zusammen, nicht wahr?« Wovon, dachte ihre Schwester, könnte Luce denn ge- wusst haben? Mit wem sollte sie zusammen gewesen sein? Natürlich. Luschka musste gerade jetzt bei ihm sein. Und wenn ihre eigenen Angehörigen Luce mit dieser Luschka Ihre Brust schnürte sich zusammen. Wie viel Zeit blieb ihr noch, bevor sie starb? Konnte sie Luschka finden, bevor Ihre Schwester und ihre Großmutter starrten sie an.
»Was ist denn heute Abend mit ihr los?«, fragte Kristina.
»Lasst uns gehen.« Baba zog die Brauen zusammen. »Denkt ihr, die Keller werden ewig aufgehalten?« Über ihnen am Himmel brummten die Propeller eines Kampfflugzeugs. Es flog so tief, dass Luce das schwarze Hakenkreuz unter den Tragflächen deutlich erkennen konnte. Ein Schauder durchlief sie. Dann erschütterte eine weitere Explosion die Stadt und die Luft wurde beißend von dunklem Rauch. Die Bombe musste irgendwo ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Zwei weitere heftige Explo- sionen folgten und ließen den Boden unter ihren Füßen er- Auf der Straße herrschte Chaos. Menschen, die an den Gräben gearbeitet hatten, liefen auseinander und ver- schwanden in einem Dutzend schmaler Straßen. Einige eil- ten die Treppen der Metrostation an der Ecke hinunter, um das Ende der Bombardierung unter der Erde abzuwarten; andere verschwanden in dunklen Hauseingängen.
Einen Häuserblock entfernt erhaschte Luce einen Blick auf eine rennende Gestalt. Ein Mädchen ungefähr in ihrem Alter mit rotem Hut und langem Wollmantel. Sie drehte gerade eine Sekunde lang den Kopf, bevor sie weiterlief. Aber es war lange genug, um Luce Klarheit zu verschaffen.
Sie machte sich von Babas Arm frei. »Es tut mir leid. Ich Luce holte tief Luft und eilte die Straße hinunter, direkt hinein in den wabernden Rauch des letzten Bombentreffers.
»Bist du verrückt?«, brüllte Kristina. Aber sie folgten ihr nicht. In diesem Fall hätten sie selbst verrückt sein müssen.
Mit vor Kälte tauben Füßen versuchte Luce durch den wadenhohen Schnee zu laufen. Als sie die Ecke erreichte, wo sie ihr vergangenes Ich mit der roten Mütze hatte vor- beiflitzen sehen, verlangsamte sie ihre Schritte. Dann Ein großes Gebäude, das sich über den halben Häuser- block direkt vor ihr erstreckte, war eingestürzt. Weißer Stein war mit Streifen schwarzer Asche überzogen. Tief im Einschlagkrater der Bombe loderte ein Feuer.
Die Explosion hatte haufenweise Trümmer aus dem In- neren des Gebäudes geschleudert. Im Schnee waren rote Flecken. Luce prallte zurück, bis sie begriff, dass es kein Blut war, sondern Fetzen roter Seide. In dem Bau musste sich eine Schneiderei befunden haben. Mehrere versengte Klei- derständer lagen auf der Straße und in einem Graben brann- te eine Schneiderpuppe. Luce musste sich den Mund mit dem Schal ihrer Großmutter bedecken, um von dem Rauch nicht zu würgen. Wo immer sie hintrat, lagen Glassplitter Sie sollte umkehren und nach der Großmutter und der Schwester suchen, die ihr helfen würden, eine Zuflucht zu finden. Aber sie konnte nicht. Sie musste Luschka ausfin- dig machen. Sie war noch nie zuvor einem früheren Ich so nahe gewesen. Luschka würde ihr vielleicht helfen können zu verstehen, warum in Luce’ eigenem Leben die Dinge sich anders entwickelt hatten. Warum Cam mit einem Sternenpfeil auf ihr Trugbild geschossen hatte – in der An- nahme, er schieße auf sie – und warum er zu Daniel gesagt hatte: »Es war besser so für sie.« Besser als was? Sie drehte sich langsam um und versuchte, das Aufblit- zen der roten Mütze in der Nacht auszumachen.
Das Mädchen lief den Hügel hinab zum Fluss. Luce Sie liefen genau im gleichen Tempo. Als Luce beim Kra- chen einer Explosion den Kopf einzog, tat Luschka das Gleiche  – in einem seltsamen Echo von Luce’ Bewegung. Und als sie das Flussufer erreichten und die Stadt übersehen konnten, erstarrte Luschka in genau der gleichen Haltung Fünfzig Meter vor Luce begann ihr Ebenbild zu schluch- Große Teile Moskaus brannten. So viele Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Luce versuchte, sich die anderen Leben vorzustellen, die heute Nacht überall in der Stadt zerstört worden waren, aber sie fühlten sich fern und unerreichbar an, wie etwas, das sie nur aus einem Ge- Das Mädchen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Es rannte so schnell, dass Luce es nicht einholen konnte. Sie schlugen große Bögen um die riesigen Krater, die von den Bomben in die Straße gesprengt worden waren. Sie rannten an brennenden Gebäuden vorbei und hörten den schreck- lichen Lärm, den ein Feuer macht, wenn es neue Beute fin- det. Sie liefen an zerschmetterten, umgekippten Militärlast- wagen vorbei, aus denen geschwärzte Arme hingen.
Dann bog Luschka nach links in eine Straße ein, sodass Adrenalin schoss ihr ins Blut. Luce lief weiter und ihre Füße stampften härter und schneller über die verschneite Straße. Menschen laufen nur dann so schnell, wenn sie ver- zweifelt sind. Wenn ihnen etwas mehr bedeutet als ihr eige- Luschka konnte nur auf eines zurennen.
Wo war er? Einen Moment lang vergaß Luce ihr früheres Ich, vergaß das russische Mädchen, dessen Leben jetzt je- den Moment enden konnte, vergaß, dass dieser Daniel nicht ihr Daniel war, aber andererseits … Er starb niemals. Er war immer da gewesen. Er hatte im- mer ihr gehört und sie immer ihm. Sie wollte nichts ande- res, als seine Arme finden und sich in ihnen vergraben. Er würde wissen, was sie tun sollte; er würde ihr helfen kön- nen. Warum hatte sie in der Vergangenheit an ihm gezwei- Sie rannte auf seine Stimme zu. Aber sie konnte Daniel nirgendwo sehen. Luschka ebenso wenig. Einen Häuser- block vom Fluss entfernt blieb Luce an einer verlassenen Jeder Atemzug quälte ihre halb erfrorenen Lungen. Ein kalter, pulsierender Schmerz bohrte sich tief in ihre Ohren, und die eisigen Nadelstiche, die sie in ihren Füßen spürte, machten das Stillstehen unerträglich.
Aber in welche Richtung sollte sie sich wenden? Vor ihr lag ein riesiges, verlassenes Grundstück, das von Schutt bedeckt und durch Gerüste und einen Eisenzaun von der Straße abgesperrt war. Aber selbst in der Dunkelheit konnte Luce erkennen, dass hier schon vor einiger Zeit etwas abgerissen und nicht erst bei einem Luftangriff von einer Es sah nach nichts Besonderem aus, nur eine hässliche, verlassene Grube. Sie wusste nicht, warum sie noch immer davorstand. Warum sie aufgehört hatte, Daniels Stimme Bis sie den Zaun berührte, blinzelte und etwas Leuchten- Eine Kirche. Eine majestätische weiße Kirche, die die riesige Baulücke füllte. Ein gewaltiger, dreiteiliger, marmorner Torbogen in der Vorder- front. Fünf goldene Türme, die sich hoch in den Himmel reckten. Und im Innern: Reihen gewachster Holzbänke, so weit das Auge reichte. Ein Altar oben auf einer weißen Treppenflucht. Und all die Mauern und die hohen, gewölbten Decken bedeckt mit zauberhaft kunstvollen Fresken. Die Kirche von Christus dem Erlöser.
Woher wusste Luce das? Warum sollte sie mit jeder Faser ihres Wesens spüren, dass dieses Nichts einst eine beein- Weil sie noch Sekunden zuvor dort gewesen war. Sie sah die Handabdrücke einer anderen Person in der Asche auf dem Metall: Luschka war ebenfalls hier stehen geblieben, hatte die Ruinen der Kirche betrachtet und etwas gefühlt.
Luce umfasste das Geländer, blinzelte abermals und sah sich selbst – oder Luschka – als kleines Mädchen.
Sie saß in einem weißen Spitzenkleid auf einer der Bänke. Eine Orgel spielte, während die Besucher des Gottesdienstes hereinströmten. Der gut aussehende Mann zu ihrer Linken musste ihr Vater sein und die Frau neben ihm ihre Mutter. Da war auch die Großmutter, die Luce gerade kennengelernt hatte, und Kristina. Sie sahen beide jünger aus und besser genährt. Luce erinnerte sich, dass ihre Großmutter gesagt hatte, dass ihre Eltern tot waren. Aber hier sahen sie so lebendig aus. Sie schienen alle zu kennen und begrüßten jede Familie, die an ihrer Bank vorbeikam. Luce betrachtete ihr früheres Ich, das seinem Vater zusah, wie er einem gut aussehenden, jungen blonden Mann die Hand schüttelte. Der junge Mann beugte sich über die Bank und lächelte sie an. Er hatte wunder- Luce blinzelte abermals und die Vision verschwand. Das Grundstück war wieder wenig mehr als Schutt. Sie fror. Und sie war allein. Eine weitere Bombe schlug auf der ande- ren Seite des Flusses ein und die Druckwelle der Explosion zwang Luce auf die Knie. Sie bedeckte das Gesicht mit den Bis sie jemanden leise weinen hörte. Sie hob den Kopf und spähte in die Dunkelheit der Ruinen, bis sie ihn ent- »Daniel«, flüsterte sie. Er sah genauso aus wie immer. Er verströmte beinahe Licht, selbst in der eisigen Dunkelheit. Das blonde Haar, durch das sie immer die Finger ziehen wollte, die violettgrauen Augen, die eigens dazu geschaffen zu sein schienen, in ihre zu blicken. Dieses wunderbare Gesicht, die hohen Wangenknochen, diese Lippen. Ihr Herz hämmerte, und sie musste sich an dem Eisenzaun fest- klammern, um sich daran zu hindern, zu ihm zu laufen.
Er war mit Luschka zusammen. Er tröstete sie, streichel- te ihre Wangen und küsste ihr dabei die Tränen fort. Sie hielten einander in den Armen, die Köpfe vorgebeugt zu einem endlosen Kuss. So verloren waren sie in ihrer Um- armung, dass sie nicht zu spüren schienen, dass die Straße unter einer neuerlichen Explosion erbebte. Sie sahen so aus, als gebe es auf der Welt nichts anderes als nur sie Da war kein Raum zwischen ihren Körpern. Es war zu dunkel, um zu sehen, wo der eine von ihnen endete und der Lucinda stand auf und kroch weiter, bewegte sich in der Dunkelheit von einem Schutthaufen zum nächsten, ange- trieben von der Sehnsucht, ihm näher zu sein.
»Ich dachte, ich würde dich niemals finden«, hörte Luce »Wir werden einander immer finden«, antwortete Daniel, hob sie hoch und drückte sie noch fester an sich. »Immer.« »He, ihr zwei!«, erklang eine Stimme von einer Tür in einem benachbarten Gebäude. »Kommt ihr jetzt?« Auf der Seite des Platzes, die dem Trümmergrundstück gegenüber lag, führte ein Mann, dessen Gesicht Luce nicht erkennen konnte, eine kleine Schar in einen massiven Be- tonbunker. Dorthin waren Luschka und Daniel unterwegs. Das musste die ganze Zeit über ihr Plan gewesen sein, zu- sammen Zuflucht vor den Bomben zu suchen.
»Ja«, rief Luschka den anderen zu. Sie sah Daniel an. »Nein.« Seine Stimme war schroff. Nervös. Luce kannte »Draußen ist es zu unsicher. Deswegen wollten wir uns Daniel drehte sich um und sein Blick glitt direkt über die Stelle, an der Luce sich versteckte. Als der Himmel von einer weiteren Folge goldroter Explosionen erhellt wurde, schrie Luschka auf und vergrub das Gesicht an Daniels Brust. Daher war Luce die Einzige, die seinen Gesichtsaus- Etwas belastete ihn. Etwas Größeres als Furcht vor den »Daniil!« Ein Junge in der Nähe des Gebäudes hielt noch immer die Tür zu dem Bunker offen. »Luschka! Daniil!« Alle anderen waren bereits in dem Gebäude.
In diesem Moment wirbelte Daniil Luschka herum und zog ihr Ohr dicht an seine Lippen. Luce wünschte sich sehnlichst zu hören, was er Luschka zuflüsterte. Ob er etwas sagte, was Daniel ihr immer sagte, wenn sie aufgeregt oder überwältigt war. Sie wollte zu ihnen rennen, wollte Luschka wegziehen  – aber sie konnte nicht. Etwas tief in ihrem Inneren wollte sich nicht von der Stelle rühren.
Sie konzentrierte sich auf Luschkas Gesichtsausdruck, als hinge ihr ganzes Leben davon ab.
Luschka nickte, während Daniil sprach, und ihre ver- ängstigte Miene wurde ruhig, beinahe friedlich. Sie schloss die Augen. Dann nickte sie noch einmal. Anschließend leg- te sie den Kopf in den Nacken und ein Lächeln breitete sich Aber warum? Wie? Es war beinahe so, als wüsste sie, was Daniil hielt sie in den Armen und beugte sich zu einem weiteren Kuss über sie, presste die Lippen fest auf ihre und strich ihr mit den Händen erst durchs Haar und dann lang- sam an den Seiten ihres Körpers hinab.
Es war so leidenschaftlich, dass Luce errötete, so intim, dass sie keine Luft bekam, so zauberhaft, dass sie den Blick nicht losreißen konnte. Nicht für eine Sekunde.
Und in einer Säule sengender weißer Flammen aufging.
Der Wirbel der Flammen war anderweltlich, fließend und auf eine schauerliche Weise beinahe elegant, als wickle sich ein langer Seidenschal um ihren bleichen Körper. Er verschlang Luschka, floss aus ihr heraus und um sie herum und beleuchtete das Spektakel ihrer brennenden Glieder, die zuckten und zuckten – und sich schließlich nicht mehr bewegten. Daniil ließ sie nicht los, nicht als das Feuer seine Kleider versengte, nicht als er das volle Gewicht ihres er- schlafften, bewusstlosen Körpers stützen musste, nicht als die Flammen mit einem wütenden, beißenden Zischen ihr Fleisch verbrannten, nicht als ihre Haut zu verkohlen und Erst als die Flamme zischelnd erlosch  – so schnell, als bliese man eine Kerze aus –, und es nichts mehr gab, was er hätte festhalten können, als nichts mehr übrig war als Asche, ließ Daniil die Arme sinken.
In Luce’ wildesten Tagträumen darüber, in die Vergan- genheit zurückzukehren und ihre früheren Leben zu besu- chen, hatte sie sich eins niemals vorgestellt: Ihren eigenen Tod mitanzusehen. Die Realität war schrecklicher, als ihre dunkelsten Albträume es jemals hätten werden können. Sie stand in dem kalten Schnee, von dem Geschehen gelähmt, und ihrem Körper war jede Fähigkeit genommen, sich zu Daniil taumelte von der verkohlten Masse im Schnee zu- rück und begann zu weinen. Die Tränen, die ihm über die Wangen strömten, zogen saubere Bahnen durch den schwarzen Ruß, der von ihr noch übrig geblieben war. Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Hände zitterten. Sie erschie- nen Luce so nackt und groß und leer, als gehörten sie – ob- wohl der Gedanke in ihr eine seltsame Eifersucht weckte – um Luschkas Taille, in ihr Haar, auf ihre Wangen. Was um alles in der Welt tat man mit seinen Händen, wenn das Ein- zige, was sie halten wollten, plötzlich auf grausame Weise verschwunden war? Ein Mädchen, ein Leben – ausgelöscht.
Der Schmerz auf seinem Gesicht drang Luce direkt ins Herz, setzte sich fest und gab ihr den Rest. Der Anblick seiner Qual vergrößerte ihren eigenen Schmerz.
So also fühlte er sich in jedem Leben.
Luce hatte sich geirrt. Daniel war nicht selbstsüchtig. Er war keineswegs teilnahmslos. Er nahm vielmehr zu großen Anteil, es zerstörte ihn. Sie hasste es trotzdem, aber plötz- lich verstand sie seine Verbitterung, seine Zurückhaltung in allen Dingen. Miles mochte sie durchaus lieben, aber seine Liebe war nichts verglichen mit Daniels Liebe.
»Daniel!«, rief sie, verließ die Dunkelheit und rannte auf Sie wollte all die Küsse und Umarmungen erwidern, die er gerade ihrem früheren Ich geschenkt hatte. Sie wusste, dass es falsch war, dass alles falsch war.
Daniels Augen weiteten sich. Ein Ausdruck abgrund- tiefen Entsetzens glitt über seine Züge.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er langsam. Ankla- gend. Als habe er nicht soeben seine Luschka sterben las- sen. Als sei Luce’ Erscheinen hier schlimmer als der Anblick der sterbenden Luschka. Er hob die Hand, die von Asche geschwärzt war, und zeigte auf sie. »Was geht hier vor?« Es war eine Qual, ertragen zu müssen, dass er sie so ansah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte eine »Antworte ihm«, sagte jemand, eine Stimme aus der Dunkelheit. »Wie bist du hierher gekommen?« Luce hätte die hochmütige Stimme überall erkannt. Sie brauchte nicht zu sehen, wie Cam aus der Tür des Bunkers Mit einem leisen Knacken und einem Sausen, als würde eine riesige Flagge entfaltet, streckte er seine großen Flügel aus. Sie ragten hinter ihm auf und ließen ihn noch pracht- voller und beängstigender wirken als gewöhnlich. Luce konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Die Flügel warfen einen goldenen Schein auf die dunkle Straße.
Luce blinzelte und versuchte zu verstehen, was sich vor ihren Augen abspielte. Es waren noch mehr von ihnen da, noch mehr Gestalten, die in der Dunkelheit kauerten. Jetzt Sie waren alle da. Alle mit straff nach vorn gezogenen Flügeln. Ein schimmerndes Meer aus Gold und Silber, blen- dend hell auf der dunklen Straße. Sie wirkten angespannt. Ihre Flügelspitzen zitterten, als seien sie bereit, sich in den Ausnahmsweise machten Luce weder die Pracht ihrer Flügel noch die Strenge ihrer Blicke Angst. Sie war angewi- »Seht ihr alle jedes Mal zu?«, fragte sie.
»Luschka«, sagte Gabbe mit ausdrucksloser Stimme. Dann war Daniil da und packte sie an den Schultern. »Ich bin nicht Luschka!«, rief Luce, riss sich von ihm los und wich ein halbes Dutzend Schritte zurück.
Sie war entsetzt. Wie konnten sie mit sich leben? Wie konnten sie alle einfach dasitzen und zusehen, wie sie starb? Es war alles zu viel. Sie war nicht bereit, dies zu sehen.
»Warum schaust du mich so an?«, fragte Daniil.
»Sie ist nicht diejenige, für die du sie hältst, Daniil«, er- widerte Gabbe. »Luschka ist tot. Dies ist … dies ist …« »Was ist sie?«, fragte Daniel. »Wie kann sie hier stehen? »Sieh dir ihre Kleider an. Sie ist eindeutig …« »Halt den Mund, Cam, sie ist es vielleicht nicht«, unter- brach Arriane ihn, aber auch sie schien Angst zu haben, dass Luce vielleicht das war, was Cam von ihr hatte behaup- ten wollen. Ein Kreischen zerriss die Luft, und in die Häu- ser auf der anderen Straßenseite schlugen Artilleriegeschosse ein; sie machten Luce taub und ließen ein hölzernes Lager- haus in Flammen aufgehen. Die Engel scherten sich nicht um den Krieg, sie interessierten sich nur für sie. Es war jetzt ein Abstand von sechs oder sieben Meter zwischen Luce und den Engeln, und sie schienen vor ihr genauso auf der Hut zu sein wie sie vor ihnen. Keiner von ihnen kam näher. Im Licht des brennenden Hauses tanzte Daniels Schatten und reckte sich weit von ihm weg. Sie konzentrierte sich darauf, diesen Schatten zu sich zu rufen. Würde es funktio- nieren? Ihre Augen wurden schmal und alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich an. Sie war noch immer so unbeholfen in diesen Dingen und wusste nie, was notwen- dig war, um den Schatten in die Hände zu bekommen.
Als die dunklen Linien zu zittern begannen, stürzte sie sich darauf. Sie packte den Schatten mit beiden Händen und begann, die dunkle Masse zu einem Ball zu drehen, genauso, wie sie es ihre Lehrer, Steven und Francesca, an ihrem ersten Tag in der Shoreline hatte tun sehen. Ein gera- de erst gerufener Verkünder war immer schmutzig und amorph. Er musste zuerst eine deutlich erkennbare Kontur erhalten. Erst dann konnte man ihn zu einer größeren, flachen Oberfläche auseinanderziehen. Dann verwandelte sich der Verkünder in einen Bildschirm, der einem die Ver- gangenheit zeigte – oder in ein Portal, durch das man hin- Der Verkünder war klebrig, aber sie zog ihn bald ausei- nander und gab ihm eine Form. Sie griff hinein und öffnete Hier konnte sie nicht länger bleiben. Sie hatte jetzt eine Mission: Sich selbst lebendig in eine andere Zeit zu bringen und zu erfahren, von welchem Preis die Outcasts gespro- chen hatten, und schließlich den Ursprung des Fluches zu entdecken, der auf ihr und Daniel lastete.
Die anderen schnappten nach Luft, während sie den Ver- »Wann hast du gelernt, wie man das macht?«, flüsterte Luce schüttelte den Kopf. Ihre Erklärung würde Daniil »Lucinda!« Das Letzte, was sie hörte, war seine Stimme, Seltsam, sie hatte direkt in sein erschüttertes Gesicht ge- blickt, aber nicht gesehen, dass seine Lippen sich bewegten. »Lucinda!«, rief er noch einmal, und seine Stimme schwoll vor Panik an, kurz bevor Luce mit dem Kopf voraus Engelsflammen
Band 3
Taschenbuch, Broschur, 432 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-31471-9 Achtung, Suchtgefahr! Die aufregende Geschichte einer Liebe durch die JahrhunderteLuce würde für Daniel sterben. Und sie hat es getan, wieder und wieder: Seit einer Ewigkeitfinden die beiden einander, nur um sich immer aufs Neue zu verlieren. Luce ist sich sicher,dass irgendwo in ihrer Vergangenheit der Schlüssel liegt, dem ewigen Fluch zu entkommen,der auf ihr und Daniel lastet. Und so reist sie zurück in ihre früheren Leben, um den Wegaus der Verdammnis zu finden. Luces Freunde brechen auf, um Luce auf ihrer Reise in dieVergangenheit zu folgen. Doch keiner sucht sie so verzweifelt wie Daniel – voller Angst, Lucekönnte die Geschichte neu schreiben. Dann nämlich könnte ihre große Liebe in Flammenaufgehen . für immer.

Source: http://www.xn--stmpfliverlag-cfb.ch/annot/564C42696D677C7C393738333435333331343731397C7C504446.pdf?sq=1&title=Engelsflammen

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